Schwarz-weiße Steine, die aussehen, als wären sie von Künstlerhand gestaltet und bemalt: Wenn sie ein Loch haben, heißen sie Hühnergötter. Woher kommt dieser Name, von Hünen, von Hühnern? Was haben sie mit slawischen Geistern und was mit dem Donnergott Donar zu tun? Wo findet man diese Steine und wie sind sie entstanden? Eine abenteuerliche Reise über 100 Millionen Jahre in die Vergangenheit. Sie beginnt in den Brandungswellen der Ostsee.
Wer sie zum ersten Mal erblickt, ist sofort gefangen von ihrer außergewöhnlichen Erscheinung. Die Rede ist von jenen schwarz-weißen Steinen, die von der Brandung an die Strände der Ostsee gespült werden. Solange das Meer sie umhüllt, haben sie eine besonders intensive Färbung, weil der Wasserfilm auf ihrer Oberfläche das Licht verstärkt und dadurch die Eigenfarbe der Moleküle besonders intensiv zur Geltung bringt.
Es handelt sich um die echten Feuersteine. Ihre Farben Schwarz und Weiß sind meist so über die Steine verteilt, dass die weiße Farbe außen eine Art rissiger, uneinheitlicher Kruste bildet, während der Stein darunter massiv schwarz ist. Man findet die schwarz-weißen Steine vor allem an Stränden mit kreidehaltigen Steilufern. Die Entstehung dieser auffallenden Gebilde liegt Geologen zufolge in ihren Anfängen über 100 Millionen Jahre zurück. In diesen Urzeiten hatten sich demnach Skelette von abgestorbenen Schwämmen und Schalentieren in großen Mengen am Meeresboden aufgelöst. Die aus ihnen frei werdende Kieselsäure führte zu Ausfällungen im kalkhaltigen Schlamm auf dem Grunde der See. Dieser Schlamm stammte im Wesentlichen von Einzellern und ihren winzigen Kalkkörperchen, den sogenannten Coccolithen.
Die dunkle Tönung der Feuersteine geht zum Teil auf Kohlenstoff-Einlagerungen zurück. Zusätzlich tragen die extrem kleinen Kristalle, aus denen die Knollen aufgebaut sind, dazu bei: Sie lassen keinerlei Licht durch und erscheinen dadurch schwarz. Die oft fleckige Außenschicht sieht wie gekalkt aus, aber hier ist der Feuerstein einfach noch nicht ganz fertig.
Schwarz-weiße Feuersteine von den Wikingerstränden
Das faszinierende an den Feuersteinen ist, dass sie nicht rein schwarz sind, wie Pechstein, Onyx, Lavabrocken oder Zinkblende. Sie haben noch nach Millionen Jahren der Gesteinsbildung (Diagenese) eine rissige Kruste in hellem Weiß. Diese ist nach Auskunft von Geologen jene noch nicht fertige Vorstufe des eigentlichen Feuersteins. Feuersteine „verkieseln“ demnach von innen nach außen. Sie entwickeln dabei eine zwiebelige Struktur und splittern ganz besonders gut. Das haben die Menschen der Steinzeit genutzt und aus den Feuersteinen scharfe Klingen, Faustkeile, Meißel, Pfeilspitzen, Schaber, Beile, Stichel und Schnitzmesser geschlagen.
Manche der in Millionen Jahren entstandenen schwarz-weißen Knollen erreichen die Größe eines Fußballs, selbst dreißig Zentimeter Durchmesser und mehr sind keine Seltenheit. Doch das Meer hat die meisten in den Jahrmillionen, die seither vergangen sind, in immer kleinere Teile zermalmt und aufgesplittert. Und so werden sie seither und bis auf den heutigen Tag noch immer von Wellen und Strömungen an die Wikingerstrände der Ostsee gespült.
Ihren Namen Feuersteine verdanken sie der Tatsache, dass sie den Menschen in grauer Vorzeit nicht nur als scharfe Werkzeuge dienten, sondern auch als „Feuerzeuge“. Der legendäre Ötzi hatte Teile eines solchen in seiner Gürteltasche. Das steinzeitliche Feuerzeug bestand aus einem scharfkantigen, schwarz-weißen Feuerstein, einem zweiten Stein Namens Pyrit, der wegen seines metallischen Glanzes und seiner goldenen Farbe auch Katzen- oder Narrengold genannt wird. Außerdem bedarf es für das Steinzeit-Feuerzeug noch eines Stücks trockenen Zunderschwamms - das ist ein Pilz, der auf absterbenden Laubbäumen wie Buche und Birke wächst. Mit dem Feuerstein schlugen unsere Vorfahren aus dem Pyritstein Funken heraus, die den trockenen Zunderschwamm zum Glimmen brachten. Durch Anblasen wurde schließlich Heu und dürres Holz zum lodernden Koch- und Bratfeuer entfacht.
Es ist eine geheimnisumwobene Entstehungsgeschichte für Steine: hervorgegangen aus den Leibern und Skeletten von uralten Meeresbewohnern. Upcycelt oder in diesem Falle vielleicht auch recycelt von der Natur. So wurden die schwaz-weißen Feuersteinknollen aus Lebewesen geboren. Sie haben bis heute etwas Mystisches.
Schwarz-weiße Feuersteine vom Gletschereis nach Süden geschoben bis zur Feuersteinlinie
Schwarz-weiße Feuersteine findet man vor allem an den dänischen Wikingerstränden und auch im übrigen Einzugsgebiet der Ostsee. Selbst in Norddeutschland tauchen sie immer wieder auf. Hierhin wurden die Steine aus dem Norden durch die eiszeitlichen Gletscher mitgeschoben bis zur sogenannten Feuersteinlinie. Diese verläuft an den Mittelgebirgen Teutoburger Wald, Harz, Erzgebirge. Es ist die Linie, die den weitesten Gletschervorschub während der Eiszeiten markiert. Feuersteine in diesen Gebieten sind also nicht am Fundort entstanden, sondern durch das Gletschereis nach Süden transportiert worden.
Auch schwere Sturmfluten haben das ihre zur Verbreitung der Feuersteine beigetragen. Vor rund 4000 Jahren haben solche Naturgewalten ungeheure Massen dieser schwarz-weißen Steine auf der Insel Rügen angehäuft. Man kann sie im Norden des Naturschutzgebiets Schmale Heide zwischen Mukran und Prora besichtigen, wo sie eine meterdicke Schicht bilden. Sie haben hier, wo sie lange außerhalb des Wassers der Sonne und dem Wind ausgesetzt sind, eine teils graue Färbung angenommen. Die Leute auf Rügen nennen diese gewaltige Fracht, die aus den Fluten kam, das „Steinerne Meer“. Es umfasst eine Fläche von über 40 Hektar. Seit 1935 steht es unter Naturschutz. Manche Autoren sprechen in enthusiastischer Übertreibung von einem „deutschen Stonehenge“. Andere zitieren Berichte über die Alten auf Rügen, die geglaubt haben sollen, dass Riesen oder Götter dieses Steinerne Meer erschaffen hätten. Wo immer die schwarz-weißen Steine aus den Fluten auch sichtbar werden, üben sie einen Zauber aus und beschäftigen die Phantasie der Menschen auf eine erstaunlich intensive Weise.
Die schwarzweißen Hühnergötter aus der Brandung
Manchmal kullert dem Strandwanderer ein Feuerstein vor die Füße, der durchlöchert ist. Man kann durch den Stein hindurchsehen und das Loch ist nicht von Menschenhand gebohrt. Es entsteht dadurch, dass der harte Feuerstein weichere Einschlüsse enthalten kann, zum Beispiel Schreibkreide oder auch fossile Reste von Meerestieren. Das Meerwasser der Brandung löst die Einschlüsse im Laufe der Zeit aus dem Stein heraus. Zurück bleiben tiefe Hohlräume, die manchmal auch als Loch quer durch den Stein gehen.
Seit altersher messen die Menschen an der Küste solchen Steinen eine besondere Bedeutung bei. Das war schon bei den Wikingern und Germanen so. Kleineren Exemplaren zieht man Lederschnüre oder Ketten durch die Öffnungen, sie werden als Glücksbringer um den Hals gehängt. Die Lochsteine sollen aber nicht nur Glück bringen, sondern auch vor Krankheiten schützen und Unheil abwenden.
Im Volksglauben spielen gerade Feuersteine mit Löchern eine wichtige Rolle. Vielleicht dachte man einst, die Löcher in den besonders großen Feuersteinen könnten nicht von Menschenhand stammen, sie seien von Riesen hindurchgebohrt worden. Riesen aber nannte man im Norden „Hünen“, das geht zurück auf das Mittelhochdeutsche „hiune“ und das Niederdeutsche „hûne“ mit der Bedeutung „Riese“. Dazu gehört auch die Überlieferung, dass die in der Jungsteinzeit (um 3000 v. d. Ztr.) entstandenen Gräber der Megalithanlagen (zu Deutsch Großsteinanlagen) die Gräber von Riesen seien. Man nannte solche Anlagen, die aus gewaltigen Findlingsblöcken errichtet sind, folgerichtig auch Hünengräber – Gräber für Riesen. Dass davon der Name „Hühnergott“ für die Lochsteine abgeleitet ist, wäre zumindest denkbar.
Odin, Thor und die schwarzweißen Hühnergötter
Jedenfalls tragen die Lochsteine auch den Namen „Hühnergott“. Unter dieser Bezeichnung sind sie bis auf den heutigen Tag bekannt. Ob sie nun so heißen, weil sie mit den Hünen, den Riesen in Verbindung gebracht werden, oder ob andere uralte Deutungen Recht haben, ist ungeklärt. Tatsache ist, dass möglicherweise auch ein Zusammenhang mit dem altnordischen Gott Donar (Thor) besteht, dem Sohn Odins und Freyjas. Die Lochsteine sollen schließlich über geheimnisvolle Kräfte verfügen, die eines mächtigen Gottes wie des Donnergottes Donar mit seinem Hammer Mjölnir würdig wären.
Das Huhn soll im germanischen Volksglauben und dessen Mythologie in enger Verbindung zu Donar stehen. Dem alten Wettergott sei unter anderem auch das Huhn heilig gewesen. Um die Eier vor Blitz und Donner zu schützen, sollte man aus diesem Grund Lochsteine, sprich Hühnergötter, an die Eingänge der Hühnerställe hängen oder direkt in die Nester legen.
Die Verbindung der alten Göttergestalten zum Federvieh tauchen auf verschiedene Weise immer wieder auf. Göttervater Odin und sein Sohn Thor haben interessanter Weise auch in der Vogelwelt der Arktis eine gewisse namentliche Bedeutung. So werden zwei Arten von Schnepfenvögeln mit den Namen der altnordischen Götter gerufen: das Odinshühnchen und das Thorshühnchen.
Bei den benachbarten Slawen sind Hühnergötter ebenfalls nicht unbekannt. Im altslawischen Volksglauben gibt es einen schädlichen weiblichen Hausgeist namens Kikimora. Er soll Unglück verbreiten, das Hausgeflügel stehlen oder es am Eierlegen hindern. Um Kikimoras Untaten zu verhindern, soll man den abgebrochenen Hals oder Griff eines Kruges in den Ställen aufhängen – oder, noch besser, einen Hühnergott aus dem Meer.
In einer alten Ausgabe der Zeitschrift für Ethnologie aus dem Jahr 1880 werden die schwarz-weißen Lochsteine als Heilsteine gepriesen, die Krankheiten aus dem Vieh „herausziehen“. Diese Feuersteine „mit natürlich gewachsenen Löchern erfreuen sich einer erhöhten Bedeutung. Solche Steine mit durchgehenden Löchern werden gegen Beulen und ‚Schwären’ dem Vieh umgehängt, bis das Uebel verschwindet. Haben sie es angezogen, so nimmt man es ab.“
So ranken sich viele Geheimnisse um die Lochsteine, die schwarz-weißen Göttersteine aus dem Meer. Sie verbreiten überall, wo man sie sammelt, schätzt und benutzt, eine geradezu mystische Aura.
Der Hühnergott des Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko
Besondere Popularität erlangte „Der Hühnergott“ durch eine gleichnamige Novelle des russischen Dichters und Schriftstellers Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko (1932 – 2017), die in den 1960er-Jahren in deutscher Übersetzung erschien. Es war die Wochenzeitung DIE ZEIT, in der die Veröffentlichung stattfand. Jewtuschenko schreibt: „Der Hühnergott – das ist ein Meeressteinchen mit einem kleinen Loch. Man sagt, die Krimtataren hätten geglaubt, daß ein solches Steinchen, mit einem Faden an die Hühnerstange gehängt, das Federvieh zu verbesserter Legetätigkeit ansporne. Daher auch der Name Hühnergott. Später kam der Glaube hinzu, ein Hühnergott bringe auch den Menschen Glück. Mir scheint, ein bißchen glaubt jeder an solche Glücksbringer: die einen mit kindlich-vertrauensseliger Offenheit, die anderen heimlich, mit mürrischer Verbissenheit. - Ich glaube heimlich.“
So wie dem russischen Dichter mit deutschen Wurzeln mag es vielen ergehen. Heimlich lassen sie ihren Hühnergott durch die Hand gleiten, hängen ihn sich gar um den Hals und erwarten, dass er Böses von ihnen fernhält. So werden die Millionen Jahre alten schwarz-weißen Göttersteine aus der Ostseebrandung bis in unsere Tage geschätzt und gesammelt. Irgendwie hat ein Hühnergott sogar etwas vom Stein der Weisen: Ein Stein mit einem Loch, der schon Jahrmillionen überdauerte und der damit auch ein wenig Unsterblichkeit verheißt.