Nordische Mythologie: Was die Runen offenbaren

Runenstein
Runenstein von Stentoften. Bild: Archäologisches Museum, Frankfurt/M.

Odin hat sie am Weltenbaum hängend empfangen, von Thor wurden sie geweiht. Im Spiegel vieler Runeninschriften wird altnordisches Heidentum lebendig. Prof. Dr. Klaus Düwel, führender Runologe des deutschsprachigen Raumes berichtet über die Erforschung skandinavischer und kontinentaler Runen-Fundstellen. Ein beeindruckender Vortrag zur Ausstellung „Odin, Thor und Freyja bei den Wikingern“, Archäologisches Museum Frankfurt/M.

 

„In vielen Kulturen wird die Erfindung von Schrift einem Gott zugeschrieben“, erklärt Prof. Düwel. „Der Mythos vom Gott als Erfinder der Schrift ist auch im Germanischen überliefert. In dem Lied ‚Die Reden des Hohen‘ (Hávamál), in der Edda im 13. Jahrhundert aufgezeichnet, spricht Odin davon, wie er am Baum hängend, sich selbst geweiht, die Runen schreiend aufnahm“. Die entsprechende Stelle in der Edda lautet:

„Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum

neun ganze Nächte.

Vom Speer verwundet und Odin geopfert,

selber mir selbst.

An dem Baum, von dem niemand weiß,

aus welchen Wurzeln er wächst.

Weder Brot reichten sie mir noch Trinkhorn,

ich blickte nach unten;

ich nahm die Runen auf, nahm sie schreiend, 

ich fiel wieder herab.“

Dieser Text, der davon spricht, dass Odin sich „selber mir selbst“ geopfert hat, um an die Schriftzeichen zu kommen, mag auf Menschen des digitalen Zeitalters vielleicht eher verwirrend wirken. Außerdem deuten die derben Zeilen zunächst gar nicht auf den göttlichen Mund, aus dem sie kamen. Der „windige Baum“ und das schreiende Herabfallen des Gottes sind Bilder, die man in einer religiösen Botschaft nicht ohne weiteres erwartet.

 

Und doch hat dieser mystische Text aus dem Munde Odins, den Runen ihre Kraft und Bedeutung verliehen. Das Ansehen und die Verehrung der Runen, sowohl bei kontinentalen Germanen im heutigen deutschsprachigen Raum, als auch im Norden, bei den Wikingern bis hinauf nach Island, hängen mit dem von Prof. Düwel erläutert göttlichen Entstehungsmythos zusammen. 

 

Neun ganze Nächte hing Odin am Weltenbaum - nicht zuletzt deshalb ist die Zahl neun in der nordischen Mythologie auch eine heilige Zahl. (Dazu „Die alten Götter im Norden: Odin, Thor und Freyja bei den Wikingern“).

Odin – der göttliche Runenmeister

Odin hat aber die Runen nicht nur empfangen bzw. überantwortet bekommen, wie es in dem Edda-Lied heißt. Er ist auch der göttliche Runenmeister, der die geheimnisvollen Zeichen zur Anwendung brachte. In seinem Namen sind Runenritzungen in Holz und auf Runensteinen angebracht worden. „Runeninschriften gibt es in kontinuierlicher Überlieferung seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert“, führt Prof. Düwel aus. 

 

 Futhark-Alphabet
Die Runenzeichen des älteren Futhark-Alphabets. Foto ClaesWallin/ Wiki

Bis jedoch der Name des Gottes Odin selbst in solchen Inschriften einmal aufgetaucht sei, habe es noch „einige Jahrhunderte“ gedauert. Die älteren Sprachformen hätten noch eher von Gott Wodan gesprochen. Diese seien dem nordischen „Óðinn“ vorausgegangen. Aber „spätestens seit dem 4. Jahrhundert mit der Ersetzung der römischen Wochentagsnamen durch germanische Götter-Namen wird dieser Gott Wodan-Odin greifbar“, sagt Prof. Düwel. Zum Bespiel im Altnordischen  óðinsdagr und entsprechend im Englischen Wednesday. Erst der „christlich-jüdisch bestimmte Mittwoch“ habe die alte Götterbezeichnung in unseren Breiten weitgehend verdrängt.

Was bedeuten die Götternamen Odin und Thor in den Runeninschriften Skandinaviens?

Odin und Thor kommen in vielen Runeninschriften Skandinaviens vor. Daneben erscheinen aber auch dämonische Wesen, Alben und Elfen, deren schadenbringende Einwirkungen die Menschen mit Hilfe von runischem Schriftzauber und Buchstabenmagie abzuwehren versucht haben. Vereinzelt schützen Runeninschriften in diesem Sinne auch geweihte Plätze und Kultstätten, so die Erklärung Prof. Düwels.

 

Runenritzungen auf Steinen und in Holz waren nicht zuletzt als Schutzmaßnahmen gegen Wiedergänger gedacht. Dass Verstorbene als ‚Untote‘ in die Welt der Lebenden zurückkehren könnten, wollten die Menschen der damaligen Zeit durch Runenbann verhindern. Denn Wiedergänger, davon ging man aus, waren den Lebenden nicht gut gesonnen und führten Unheil im Schilde. In einem Frauengrab aus der Mitte des 6. Jahrhunderts (Beuchte, Krs. Wolfenbüttel) hat man z. B. eine Fibel gefunden, die schon lange getragen worden war. Sie ist aber mit Runenritzungen versehen, die viel frischer aussehen. Das legt laut Prof. Düwel die Annahme nahe, „die Fibel sei erst kurz vor der Niederlegung im Grab beschriftet worden, vermutlich um ein Wiedergehen der Toten zu verhindern.“

 

Runologe Düwel berichtet auch von einer Fibel, aus Nordendorf bei Augsburg, die vom erzwungenen Niedergang der alten Götter durch die Christianisierung zeugen könnte. Nach Düwel wäre der Runentext so zu deuten: „Lügnerisch sind Wodan und Kampfdonar“.  Das wäre dann als Absage an die heidnischen Götter zu verstehen, wie sie in der Zeit der gewaltsamen Christianisierung auch aus „Abschwörungsformeln der Taufgelöbnisse“ bekannt seien. 

 

Die christlichen Missionare und Bekehrer haben demnach nichts unversucht gelassen, „den Heiden die Nichtigkeit ihrer Götter gegenüber der unsichtbaren Stärke des Christengottes und seines Sohnes zu verdeutlichen.“ In diesem Zusammenhang weist Prof. Düwel auch auf einen Befehl Gregors des Großen an den Missionar in England, Augustin, hin, die heidnischen Kulteinrichtungen zwar zu zerstören, aber den Platz selbst christlich umzuwidmen, also umzufunktionieren. So fällt Bonifatius die Donareiche bei Geismar, so zerschlägt der Bekehrerkönig Olaf Tryggvason die Götterstatuen der Norweger. Und so funktioniert auch in der Bekehrungszeit die Technik der interpretatio Christiana, in der heidnische Göttergestalten zu Geistern, Teufeln und Unholden dämonisiert und diabolisiert werden.“

Der mächtige Thor- der Kampfdonar – nahm die Runenweihen vor

Runen Glavendrup
Runenstein von Glavendrup, auf der Insel Fünen, Dänemark. Foto Danielle Keller/Wiki

Dass Odin den Menschen die Runen gebracht und Thor im Bewusstsein der Runenschreiber derjenige ist, der sie weiht, zeigt sich in einer ganzen Reihe von Inschriften. Prof. Düwel zitiert eine dieser Inschriften auf dem Runenstein von Glavendrup. Er steht zwei Kilometer südöstlich von Skamby in einem schmalen Waldstück am Rande des Dorfes Glavendrup auf der dänischen Insel Fünen. Der Stein von Glavendrup ist 2,82 m hoch, davon 1,88 m über dem Boden, 1,5 m breit und wiegt etwa sieben Tonnen. Der Runenstein enthält 210 Runen, die auf drei Seiten verteilt, die längste Runeninschrift Dänemarks bilden. Der Text der Runenschrift lautet:

 

„Ragnhild setzte diesen Stein für Alle den Bleichen, den Goden der Heiligtümer, den hochgeehrten Degen (Hauptmann) des fürstlichen Gefolges. Alle’s Söhne machten dieses Denkmal für ihren Vater, und seine Frau für ihren Mann, aber Sote ritzte diese Runen für seinen Herrn. Thor weihe diese Runen! Zu einem Feigling (oder: Hexer) werde der, der Gewalt gegen diesen Stein ausübt oder ihn wegschleppt zum Gedenken für einen anderen“.

 

Diese hier zitierte Weiheformel kommt dem Runologen Düwel zufolge öfter vor, auch in der Form „Thor weihe diese Denkmäler“. Er führt als Beispiel auch einem Gedenkstein auf der dänischen Insel Falster, in der Gemeinde Sønder Kirkeby an. Auf diesem ende eine fragmentarisch erhaltene Inschrift mit „Thor weihe (diese) Runen“. Eine Besonderheit sei hier die graphische Gestaltung mit sogenannten gebundenen Runen. Hier werden die Stäbe mehrerer untereinander geschriebener Zeichen zu einem Stab vereinigt, was das Lesen nicht gerade erleichtert und das ganze Schriftbild oder Schriftband noch geheimnisvoller macht. 

Der göttliche Thor-Hammer ist eine Vielzweckwaffe

Der Gott Thor „ist in vielem der Gegensatz zum eher intellektuellen Vater Odin“, so beschreibt Prof. Düwel den immer wieder zitierten Weihegott. „Thor ist ein Draufgänger und Dreinschläger. Sein Attribut ist der Hammer Mjöllnir, eine göttliche Vielzweckwaffe, die Donner und Blitze erzeugt, Riesen reihenweise tötet, aber auch als Heilinstrument und Weihegerät dient.“ 

 

Auf mehreren wikingerzeitlichen Runensteinen erscheint Prof. Düwel zufolge gelegentlich auch nur allein das Hammerzeichen des Gottes. So auf dem Laeborg-Runenstein, einem Wikinger- Denkmal nördlich der dänischen Gemeinde Vejen auf Jütland. Der Stein enthält sogar zwei Darstellungen des Thorhammers: einen senkrecht aufgestellten (unten) und einen liegenden Hammer.

Laeborg-Runenstein
Laeborg-Runenstein mit aufgestelltem Thorhammer

Thor war der Gott, der bei den Menschen eine „lebhafte Verehrung“ bis weit „in die späte Wikingerzeit hinein“ erfuhr. Insgesamt, so der Runologe Düwel, beruhen allerdings viele Deutungen nur „auf einer kleinen Zahl von Belegen.“ Und das ist letztlich auch kein Wunder, wenn man die Umstände der Christianisierung des Nordens zugrunde legt. Vieles wurde ganz bewusst zerstört, umgedeutet und auch von den Nordleuten selbst irgendwann vergessen. 

 

Das Christentum war als Herrschaftsinstrument von mächtigen Königen und Stammesfürsten installiert worden. Prof. Düwel schildert einige der Praktiken, mit denen die alten Götter aus dem Bewusstsein der Menschen gelöscht oder von Missionaren umgedeutet  wurden. 

 

Die Götter des Nordens waren einst bodenständige, mythische Gestalten, wie sich auch am Beispiel der Runen zeigt. Sie waren irdisch, den Menschen vertraut und nicht entrückt. Mit der Buchreligion des Christentums wurde das Göttliche ins Jenseits verlagert. Durch diesen Dualismus zwischen irdisch und himmlisch kam die Angst vor Sünde und Strafe in die Welt. Der strafende Christengott ist ein globaler Gott, der weltweit die gleichen Regeln einfordert. Bis heute – oder heute sogar wieder ganz stark - empfinden Menschen dieses Globale als Bedrohung. 

Von der Tragik des Nordens

Inzwischen jedoch sind viele Kulturen weltweit von den dualistischen Buchreligionen völlig durchdrungen. Die Menschen bleiben selbst dann an diese Kulturen gekettet, wenn sie gar nicht gläubig sind. Die Glocken läuten für jeden, ob man sie hören will oder nicht – der Muezzin ruft von seinem Minarett aus alle zum Glauben. Auch Heiden und Ungläubige, die sich nicht mit den Ansprüchen der diversen Kirchen identifizieren, sind dennoch in den religiös bestimmten Kulturen gefangen. Auch die nichtreligiösen Bereiche des Zusammenlebens beruhen auf dem Menschenbild der Buchreligionen, dem christlichen, dem jüdischen, dem islamischen Bild vom Menschen und seiner Stellung gegenüber Gott. Darauf fußen Verfassungen und darauf berufen sich die Gesetzgeber. Der Dualismus mit seinen globalen Göttern hat weite Teile der Erde und Milliarden Menschen fest im Griff.

 

Es ist die Tragik des Nordens, dass er sich seiner Götter berauben ließ, für die Gründung von Klosterherrschaften und Fürstbistümern, für Staatsräsonen und Reichsgründungen. Die kirchlichen Dogmen der heutigen Welt, die Ismen, besonders in unserer Zeit, sind zu Menschheitsgeiseln und sogar

Herrschaftsinstrumenten des Terrors geworden. Mehr Feindschaft als durch die vorherrschenden Religionen ist nirgendwo auf dieser Erde jemals gewesen.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0