Wer Bewegungsentzug verhängen und durchsetzen kann, gewinnt nahezu unumschränkte Macht über Menschen. Bewegungsentzug wird als Strafe eingesetzt. Das beginnt schon bei Kindern, die „aufs Zimmer“ müssen oder gar mit Stubenarrest belegt werden, wenn sie nicht spuren. Am einschneidensten ist Bewegungsentzug bei Gefängnisstrafen und in Kriegsgefangenschaft. Das brutalste Beispiel liefert in unseren Tagen Guantanamo, wo Gefangene an Händen und Füßen gefesselt in Käfige gesperrt werden.
Bewegungsentzug gibt es auch in zivilen Einrichtungen. Am Ende des Lebens zum Beispiel, wenn alte Menschen in Pflegeheimen „renitent“ werden, fesselt man sie sogar ans Bett. Das geschieht auch in psychiatrischen Anstalten, wenn Insassen anders anscheinend nicht „zu bändigen“ sind. Dieser totale Bewegungsentzug macht die Betroffenen physisch und psychisch absolut rechtlos und handlungsunfähig.
Bewegungsentzug ist für Menschen die Höchststrafe. Denn Bewegung ist so wichtig wie das Atmen, wie Essen und Trinken. Bewegung ist Leben und bewegungslos der Tod. Selbst ein noch so humaner Strafvollzug verhindert nicht, dass Menschen aus einem jahrelangen, unnatürlichen Leben im Zellentrakt mit Schäden entlassen werden.
Bewegungsentzug gibt es indes nicht nur als Strafe. Auch im täglichen Leben müssen wir oft auf Bewegung verzichten. Zum Beispiel am Arbeitsplatz. Hier ist die Bewegungseinschränkung bedingt durch unsere arbeitsteilige Wirtschaft, in der die meisten an einem festen Ort bezahlte Handlungen vollbringen: im Büro, im Auto, in Schule und Studium, in Forschungseinrichtungen, auf Schiffen und in Flugzeugen, in Fabrikationshallen und in Parlamenten.
Bewegung (2): Bewegungseinschränkung, ein Kennzeichen moderner Gesellschaften
Geschichtlich betrachtet hat die sogenannte neolithische Revolution (Beginn vor rd. 15.000 bis 20.000 Jahren) eine erste, grundsätzliche Änderung im Bewegungsverhalten des Menschen mit sich gebracht. Damals zogen die eiszeitlichen Jäger ihrem bislang frei umherstreifenden Dasein allmählich das sesshafte Bauernleben vor. Anscheinend war die Haupttriebfeder die Zubereitung von Alkohol mithilfe von mühsam angebautem Wildgetreide für eine frühe Bierherstellung. (Siehe: „Das Ich der Droge“ in „Neben Ich, wieviele sind wir wirklich?“).
Seither hat die Bewegung von Menschen in ihrem Alltagsleben sich noch des Öfteren grundlegend verändert, freiwillig, aber auch gezwungenermaßen: Von der Schufterei frühen Bauerndaseins bis zur Leibeigenschaft, von der industriellen Revolution bis zur Fließbandarbeit und zu den heutigen Beschäftigungsformen. Letztere sind gekennzeichnet durch immer mehr Einsatz von Informationstechnologie (IT), mit sitzenden Tätigkeiten und Bildschirmarbeit.
Bewegung (2): Bequemlichkeit ist unser tägliches Guantanamo
Zu all diesen Einschränkungen über die Jahrhunderte kommt noch eine hinzu, die sich besonders gravierend auf die Bewegung des Menschen auswirkt: ein technikgestützter, freiwilliger Bewegungsverzicht, auf den wir sogar stolz sind. Wir sprechen von technischen Errungenschaften und von Erleichterungen des Arbeits- und des Alltagslebens, von unserer Bequemlichkeit.
Durch diese Errungenschaften werden wir den ganzen Tag über entlastet, bei kleinen und großen Verrichtungen. So können die meisten Menschen in unseren Breiten immer öfter auf einstmals erforderliche Bewegungen verzichten.
Es beginnt bei Kleinigkeiten, die wir kaum mehr registrieren. Der Wecker am Morgen zum Beispiel hat längst keine Stahlfeder mehr, die aufgezogen werden muss, sondern er arbeitet elektrisch, oft als Radiowecker - oder das Handy übernimmt den Weckdienst. Die elektrische Zahnbürste erspart dem Arm endlose Bewegungen an den Zahnreihen entlang. Kaffeepulver liegt gemahlen in der Aromaschutzdose oder wird als Pellet in die Maschine gelegt - die schön geformte alte Kaffeemühle aus Omas Küche, mit der einst mühsam Bohnen zerquetscht wurden, bis schon morgens der Schweiß auf der Stirn stand, ist nur noch Dekoration. Wir haben Brotschneidemaschinen und elektrisch betriebene Saftbereiter. Rollläden an den Fenstern bewegen sich von selbst, ohne Kraftanstrengung auf Knopfdruck oder über Sensoren. Der Fernseher wird vom Sessel aus bedient und das Notebook oder Tablet nehmen wir gleich mit ins Bett. Wenn erst das vernetzte Haus überall verwirklicht ist, wird alles noch viel bequemer, und wir werden unsere Bewegungen zu Hause noch mehr einschränken können.
Auch auf dem Weg zum Arbeitsplatz wird weiter kräftig an Bewegung gespart. Wer heute das Haus verlässt, benutzt in der Regel den Fahrstuhl. Garagentore bewegen sich elektrisch. Nach wenigen Schritten sitzt der Mensch im Auto oder in einem anderen Beförderungsmittel. Von da zum Arbeitsplatz werden die meisten wieder mit Fahrstühlen oder Rolltreppen befördert, bis sie auf dem Bürostuhl Platz nehmen oder sich an einem anderen Arbeitsplatz niederlassen. Dort arbeiten sie acht Stunden, vorwiegend im Sitzen, bis sie nach Feierabend den Rückweg antreten, der so bewegungsarm ist wie der Hinweg am Morgen.
Die Statistik der Berufe für Deutschland sagt, dass rund 17 Millionen Menschen so ihren Arbeitstag verbringen. Damit sind Büroarbeiter die größte Beschäftigtengruppe im Land. Und dazu die, die sich am wenigsten bewegt. Daneben gibt es zwar Berufsgruppen, die weniger Bequemlichkeit in Anspruch nehmen: Aber Krankenschwestern, Handwerker und Fahrradkuriere gehören lediglich einer sich noch bewegenden Minderheit an.
Selbst dort, wo früher harter körperlicher Einsatz erforderlich war, gibt es heute enorme Bewegungseinsparungen: Auf dem Bau stehen Kräne, die jedes Stückchen Material mühelos an seinen Platz hieven. Niemand schleppt mehr Mörteleimer, Zementsäcke oder Steine, um Gebäude hochzuziehen. Am Montageband einer Automobilfabrik arbeiten Roboter, heben die Teile über Kopf, so dass selbst das Bücken entfällt. Über Getreidefelder, auf denen früher Sensen und danach Mähgespanne die Halme schnitten, brummen jetzt Mähdrescher in Staub- und Schimmelwolken gehüllt. Die Fahrer in ihren klimatisierten Kabinen tragen Kopfhörer und lassen sich mit Musik berieseln. Auch in den Wäldern dröhnen die Motoren von Erntemaschinen, mit denen eine einzige Person Bäume fällen, entasten, in Stücke schneiden und stapeln kann.
Bewegung (2): Unser Körper ist noch der von Jägern und Sammlern - unsere Bequemlichkeit macht ihn krank
Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Bewegungseinsparungen sind ein wichtiges Kennzeichen unserer modernen Welt, und sie nehmen immer noch größere Umfänge an: Selbstfahrende Autos, vernetzte Büros und Haushalte und Fabriken, Transportdrohnen und Internet ersparen Wege, Bewegungen, Energie. Längst hat auch die Truppe ein Bewegungsproblem: Soldaten sitzen an softwaregesteuerten Waffensystemen. Ohne sich groß zu bewegen schießen sie Mensch und Material in Grund und Boden. Viele haben Gewichtsprobleme. Bis zu 40 Prozent sollen dem Wehrbeauftragten zufolge bereits zu dick sein.
Wissenschaftler sagen, wir hätten den Körper von Jägern und Sammlern. Gemeint ist, dass Menschen im Prinzip noch immer so gebaut sind wie zu der Zeit, als sie sesshaft wurden, und begannen sich Stühle und Tische zu zimmern. Seither hat das Sitzen überhandgenommen, die Bewegungsorgane verkümmern, aber andere haben wir nicht. Langes und häufiges Sitzen führt zu Muskelverspannungen und Rückenschmerzen. Letztere sind zur Volkskrankheit geworden. Und bis heute haben wir modernen Menschen, die wir bereits in die Schwerelosigkeit des Alls vordringen, noch kein Rezept, wie wir uns unter den herrschenden Bedingungen optimal bewegen könnten. Und das, obwohl die Sache mit dem Sesshaftwerden ja nun schon viele Jahrtausende zurückliegt. Es wird also allerhöchste Zeit, dass wir uns etwas einfallen lassen, denn der Bewegungsmangel hat schlimme Folgen. Bequemlichkeit wird zunehmend zur Geißel in allen modernen Gesellschaften. Wir sitzen uns krank.
Wird fortgesetzt