Der Darm ist über Nacht zum Star geworden. Lange hatte er vor allem als unappetitlich gegolten und war selbst von Wissenschaftlern eher gemieden worden. Der Darm erfreute sich auch nicht gerade literarischer Aufmerksamkeit. Das hat sich nun dramatisch geändert, zumindest auf dem Gebiet des Sachbuchs: In kürzester Zeit sind gleich mehrere neue Darmbücher erschienen. „Darm mit Charme - alles über ein unterschätztes Organ“, lautet der Titel von Giulia Enders, einer jungen Doktorandin der Medizin, die am Institut für Mikrobiologie in Frankfurt am Main forscht. Ihr Buch, das im Ullstein Verlag veröffentlicht wurde, geriet sofort zum Bestseller.
Begonnen hatte der Darm-Boom bei Büchern mit dem Titel „Neben Ich: Wieviele sind wir wirklich?“ Darin fragte Hans Georg Wagner: „Welchen Anteil hat der Darm an unserer Identität?“ Der Autor machte zum ersten Mal deutlich, dass es neben unserem bewussten Ich noch ein riesiges, unbenanntes und immer noch weitgehend unbekanntes „Neben-Ich“ gibt, das uns entscheidend prägt.
Bücher über den Darm: Mit dem Titel „Neben Ich“ begann der Boom
Nicht unser bewusstes Ich steuert demnach die Vorgänge des Lebens, sondern dieses unbekannte Neben Ich, das Milliarden Jahre älter ist als das Gehirn im Kopf und damit viel älter auch als das, was wir als Verstand und Bewusstsein bezeichnen. Über Gefühle und Stimmungen, über Gesundheit oder Kranksein und darüber, wie alt wir einst werden, wird nicht in unserem Kopf entschieden, so der Autor, sondern in diesem Urgrund unserer Existenz. Unsere Basis ist der Darm! Wir sind darmbestimmt. Glückshormone entstehen im Darm, das Immunsystem ist hier beheimatet, und wichtige Vitamine werden in seinen Tiefen erzeugt. Am Anfang waren wir nur Darm, lehrt uns das Buch „Neben Ich“. Aus ihm, aus dem kleinsten Darmgebilde einer Bakterie haben wir uns entwickelt. Unser Denken und Fühlen werden bis heute von unserem Darm bestimmt. Auch unsere Figur, wie wir riechen, wie wir aussehen und ankommen, unsere Aura, unser ganzes Wesen werden im Darm geprägt. Und auch der Tod sitzt im Darm. Ein atemberaubendes Buch von 400 Seiten.
Bücher über den Darm: Das Verdauungsrohr als völliges Ausnahme-Organ
Auch Giulia Enders hat nun den Darm als „ein völliges Ausnahme-Organ“ beschrieben. Unser „Verdauungsrohr“ bilde zum Beispiel nicht nur zwei Drittel des Immunsystems, sondern produziere auch mehr als 20 Hormone. Der Erfolg ihres 270-Seiten-Buches ist dennoch überraschend. Er basiert nicht zuletzt auf dem launigen Stil der Autorin und ihrer unbekümmerten Darstellung der Materie. „Wie geht kacken?“, fragt sie und gibt über die beste Haltung bzw. Stellung auf dem Klo ebenso bereitwillig Auskunft, wie über Kotfarbe, inneren und äußeren Schließmuskel, über Pupse und Durchfälle. Sie holt die Feuchtgebiete des Verdauungstraktes mal flapsig, mal ironisch an die Oberfläche. Damit hat sie viel öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Ihr Vortrag „Darm mit Charme“ beim Science-Slam-Wettbewerb in Freiburg wurde zum Youtube-Hit. Ihre Schwester, eine Kommunikationsdesignerin, hat das Buch mit Illustrationen angereichert. Mit den reichlich vorhandenen Werbemitteln des Verlags ist es schließlich gelungen, die Auflage bis an die Spitze der Bestseller-Listen zu pushen.
Bücher über den Darm: Der „Darm-IQ“ als Verkaufs-Gag
Der Heilpraktiker Joachim Bernd Vollmer, der auf den Kanarischen Inseln lebt, hat sich flugs auf die Welle gesetzt und ein Darmbuch mit dem Titel „Der Darm-IQ“ verfasst. Im Integral Verlag aus dem Buchkonzern Random House ist es erschienen. Untertitel: „Wie das Bauchhirn unser körperliches und seelisches Wohlbefinden steuert“. Die wesentlichen Bestandteile des Buches jedoch sind homöopathischen Essenzen, Bachblütentherapien, Ernährungsratschlägen und speziellen „Meridian-Massagetechniken“ etc. gewidmet. Ein typisches Heilpraktikerbuch, auch wenn der futuristische Titel etwas anderes suggeriert. Es wird viel beklagt und räsoniert. Beispiel: „Würden wir etwas mehr Wert auf das Training des Bauchhirns legen als darauf, die Fingermuskulatur für Spielekonsolen und Smartphones zu stärken, wären wir für [...] Manipulationen von außen nicht so sehr empfänglich. Ein gesundes Bauchhirn würde uns eindringlicher vor unsinnigen Werbeversprechen warnen und damit viel Ärger und unsinnige, teils sogar gesundheitsschädliche Geldausgaben ersparen.“ Stattdessen seien wir schuld daran, dass das Bauchhirn „schmollt“.
Es ist nicht anzunehmen, dass Herr Vollmer wirklich wüsste, wie man das Bauchhirn trainiert. Vielleicht mit einer Reisschleimkur und Apfelkompott, die er empfiehlt? Der „Darm-IQ“ ist ein Titel, der augenscheinlich in die Zeit passt, aber der Inhalt des Buches verrät, dass er vor allem der Verkaufe dienen soll.
Am Schluss des Buches fühlt man sich als Leser zunehmend unwohl. Dort hat sich der Autor seitenweise zu einem fiktiven Gespräch zwischen Kopfhirn und Bauchhirn hinreißen lassen. Das klingt so:
Bauchhirn: „Hi, Hirn.“
Hirn: „Ja?“
Bauchhirn: „Du solltest schlafen.“
Hirn: „Und?“
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Bauchhirn: „Mach hinne, sonst kann ich den Mist, den du heute verzapft hast, nicht verarbeiten, und du bist dann morgen wieder völlig durch den Wind.“ usf., - insgesamt über neun Seiten.
Bücher über den Darm: Wie das Neben Ich im Bauch unsere Persönlichkeit beeinflusst
Dem Untertitel „Wie das Bauchhirn unser körperliches und seelisches Wohlbefinden steuert“ kann das Buch vom „Darm-IQ“ mit derartigen Beiträgen nicht gerecht werden. Was heute Stand des Wissens ist, welche Macht das Bauchhirn wirklich hat, wie es überhaupt entdeckt wurde, warum es eigentlich Darmhirn heißen sollte, wie dieses Neben Ich unsere Befindlichkeit und unsere Persönlichkeit beeinflusst, darüber gibt es zwei umfangreiche Kapitel im Buch „Neben Ich“. Ausgehend von den Arbeiten Michael Gershons, des amerikanischen Neurobiologen und Wiederentdeckers des selbständigen Darmhirns, wird dessen Wirken erklärt.
In diesem Buch wird auch das Zusammenspiel der ungeheuren Zahl von Lebewesen, aus dem sich ein menschlicher Organismus zusammensetzt, mit dem Bauch- und dem Kopfhirn erstmals in seiner ganzen schier unvorstellbar riesigen Dimension sichtbar: Hunderte Billionen von Bakterien in und auf dem Menschen, Billiarden von Ex-Bakterien, Mitochondrien genannt, die in jeder einzelnen Körperzelle zu Hunderten arbeiten. Sie allein produzieren die gesamte Lebensenergie des Körpers (70 bis 80 Kilo am Tag) und sichern so unsere Existenz. Wenn sie erschöpft, sind erkrankt der Organismus. Alzheimer, Parkinson, Diabetes und Krebs sind die Folge. Das Buch gibt tatsächlich tiefen Einblick in unser unbekanntes Ich, das uns so sehr prägt und bestimmt und von dem die meisten kaum etwas wissen.
Bücher über den Darm: Ratgeber zu richtigem Essverhalten
„Was passiert im Darm?“ Diese Frage hat Prof. Dr. med. Julia Seiderer-Nack für ihr neues Darmbuch als Titel gewählt. Es ist ein typisches Ratgeberbuch, das zu nahezu jedem Thema im Bereich Ernährung und Verdauung etwas beisteuert. Naturgemäß sind daher auch nicht die neuen Themen Bauchhirn und mikrobielle Prägung des Menschen bestimmend. Sie kommen alle in ihrem Zusammenhang kurz vor. Aber das Buch bemüht sich vor allem um eine Gesamtschau aller Funktionen des Darms, gibt Ratschläge zu richtigem Essverhalten, auch bei Reizdarm, und enthält sogar einige Koch-Rezepte.
Bücher über den Darm: Mensch und Bakterien – ein Bund fürs Leben
Im Buch der beiden Biologen Hanno Charisius und Richard Friebe geht es um das Thema „Warum Bakterien unsere Freunde sind“. Der Titel des 300-Seiten-Werkes lautet dementsprechend: „Ein Bund fürs Leben“. Die Autoren stellen den Superorganismus Mensch vor, bestehend aus mehr Mikroben denn aus menschlichen Körperzellen. Es geht um die Darm-WG mit ihren Billionen Bewohnern und darum, wie in der Evolution Bakterium und Mensch stets als uralte Feinde aber auch als alte Freunde auftreten und koexistieren.
Es wird begründet, warum Antibiotika eine ökologische Katastrophe sind. Man erfährt, wie die Besiedelung des einen Augenblick vorher noch sterilen Neugeborenen nach der Geburt mit Bakterien von Mutter und Umwelt erfolgt und was ein Kaiserschnitt für die bakterielle Zukunft des neuen Erdenbürgers für Folgen haben kann. Bakterien können für Diabetes und Übergewicht verantwortlich sein. Sie können unsere Psyche aus dem Bauch heraus beeinflussen und die Verdauung durcheinanderbringen. Letztlich aber geht es nicht ohne sie. Im Bund fürs Leben werden auch neue Heilmethoden genannt, wie beispielsweise die Stuhltransplantation (Fäkaltherapie), bei der mittels Kot Bakterienstämme von gesunden auf darmkranke Menschen übertragen werden. Ein kurzweilig geschriebenes Buch mit vielen zusammenfassenden Informationen.
Bleibt noch nachzutragen, dass im Buch „Neben Ich“ auch der Frage nachgegangen wird, warum nirgendwo auf der Welt, in keiner Kultur, der Mensch ohne Drogen auskommt. Und es wird der Umgang mit unserer Volksdroge Alkohol untersucht, die überall erhältlich ist, die von höchsten staatlichen Stellen überwacht und dann auch konsumiert wird. Nur der Umgang mit ihr werde nicht gelehrt. Das sei unverantwortlich und letztlich beschämend, meint der Autor.
Im Schlusskapitel geht es schließlich um die Frage, ob der Mensch und sein Ich im Kosmos Doppelgänger hat, ob es ein Multiversum gibt, in dem vielleicht Elvis noch lebt. So wird das menschliche Ich im mikro- und makrokosmischen Bereich untersucht mit vielen erstmals geäußerten und veröffentlichten Gedanken.
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